Die Biomechanik der Wechselwirkung von Bäumen mit Deichen - VTA (Visual Tree Assessment)

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Die Biomechanik der Wechselwirkung von Bäumen mit Deichen
Prof. Dr. C. Mattheck - Dr. K. Bethge
Baumreihen auf einem Rheindeich
Einleitung

Schadensfälle vergangener Zeit haben das Sicherheitsdenken für den Flussdeich sensibilisiert. Deichversagen oder Teilversagen an Oder und Rhein drängen die Verantwortlichen zum Handeln. Im Unterschied zum eher lokalen Versagen von Maschinenbauteilen oder z.B. Bäumen im Bereich des Verkehrs ist ein Deichbruch — wodurch auch immer hervorgerufen — ein Schadensereignis weit beträchtlicheren Ausmaßes als z.B. der Bruch einer Autoachse oder eines Straßenbaumastes.
Es müssen daher alle Möglichkeiten genutzt werden, um den Eintritt eines solchen Unfalles, der u.U. Tausende von Menschenleben kosten und erheblichen Sachschaden bewirken kann, zu vermeiden.
Die in dieser Studie ausgeführten Ergebnisse beruhen auf ca. 15 Jahre währenden Studien der Autoren über die Biomechanik der Bäume und dem Fachwissen anderer Autoren, die im Literaturverzeichnis genannt sind.

Die Selbstoptimierung der Baumgestalt mit besonderem Augenmerk auf die Baumwurzel

In etwa symmetrische Achtform deutet auf reine Biegebelastung.
Abb. 1: In etwa symmetrische Achtform deutet auf reine Biegebelastung.
Bäume pflegen eine gleichmäßige Spannungsverteilung auf der Baumoberfläche. Sie wachsen in eine Form, die sowohl lokal hohe Spannungen (Sollbruchstellen) als auch unterbelastete Bereiche (Materialverschwendung) vermeidet. Dies wurde von Metzger[1] bereits 1893 für die Verjüngung von Fichtenstämmen nachgewiesen. Mattheck und Mitarbeiter[2] zeigten, dass jede Baumwurzel sich mit ihrem Querschnitt ihrer Belastung anpasst.
Zum Beispiel ähnelt die auf reine Biegung belastete Wurzel in ihrem 8-förmigen Querschnitt dem I-Balken (auch Doppel-T-Träger genannt) im Bauwesen.
Wirkt dagegen eine kombinierte Zug- und Biegebelastung auf die Baumwurzel, so kommt es meist zu ausschließlich oberseitigem Wurzelwachstum, wo sich die Zug?spannungen addieren und zu geringem oder gar keinem Wurzelwachstum auf der Unterseite, wo sich die Zugspannungen mit den Druckspannungen aus der Biegebelastung aufheben.

Wurzelquerschnitt
Abb. 3: Nach einem lokalen Holzversagen kommt es zur Kraftflussumlenkung, damit zur Spannungsumlagerung und Zuwachsumverteilung, aus der sich das Unfalljahr (schwarzes Dreieck) datieren lässt.
Die Kombination aus Zug- und Biegebelastung führt hier zu bevorzugt oberseitigem Zuwachs
Abb. 2: Die Kombination aus Zug- und Biegebelastung führt hier zu bevorzugt oberseitigem Zuwachs.


Wie sehr der Wurzelquerschnitt ein unfälschbares Protokoll der Lastgeschichte ist, zeigt die Abbildung 3.
Neben der Querschnittsoptimierung der einzelnen Baumwurzel gibt es auch eine optimale Verteilung der Wurzeln im Erdreich[2,3]. Diese beruht wohl auf dem Mohr-Coulomb’schen Gesetz der Bodenmechanik, das besagt, dass zusammengedrückte Erde scherfester ist als nicht zusammengedrückte oder gar leicht zugbelastete Erde (Abb. 4).

In seiner Doktorarbeit zeigte Matthias Teschner[3] rechnerisch den Einfluss der Belastung auf die Wurzelmorphologie, also auf die Anordnung der Wurzeln in der Erde. Die Ergebnisse sind in den folgenden selbsterklärenden Abbildungen dargestellt. Die Ergebnisse sind als qualitative Relativaussagen (wegen des zweidimensionalen Rechenmodells) zu werten.

Einseitig windbelastete Bäume oder durch Gravitation einseitig biegebelastete Bäume bilden auf der Zugseite der Biegung mehr, längere und festere Wurzeln, um die dort weniger scherfeste Erde zu armieren. Allein daraus wird deutlich, wie sensibel die Bäume gegenüber einer Minderung der Scherfestigkeit der Erde sind.

Veranschaulichung des Mohr-Coulomb Gesetzes der Bodenmechanik
Abb. 4: Veranschaulichung des Mohr-Coulomb Gesetzes der Bodenmechanik.
Abb.5b
Wurzelformation
: Es sind mehr und längere Wurzeln als Bodenarmierung nötig, wo die Erde weniger scherfest ist, mehr Wurzeln windseitig und mehr Wurzeln hangaufwärts
Abb. 5a: Es sind mehr und längere Wurzeln als Bodenarmierung nötig, wo die Erde weniger scherfest ist, mehr Wurzeln windseitig (Abb.5a) und mehr Wurzeln hang­aufwärts (Abb.5b).

Beispiele aus der Natur
Abb. 6: Beispiele aus der Natur, die die Rechenergebnisse qualitativ beweisen, indem zugseitig mehr Wurzeln gebildet werden.
Die Scherfestigkeit der Erde wird i.A. aber auch durch Vernässung des Bodens gemindert. Der Baum müsste auch hierauf durch eine Vergrößerung der Wurzelmasse reagieren [2]. Dazu bleibt ihm z.B. bei einer Flut keine Zeit. Die Wurzelarmierung des Bodens reicht u.U. nicht mehr aus, es kann zum Windwurf kommen.
Der Windwurf

Die Windlast wird vom Baum über Blätter oder Nadeln eingesammelt, über Zweige und Äste zum Stamm geleitet, von diesem hinunter in die Erde transportiert, über die Wurzelanläufe auf Stark- und Feinwurzeln verteilt. Schließlich muss allein die Erde in hinreichendem Abstand vom Stamm, der durch die mechanisch wirksame Wurzelplatte mitbestimmt wird, die Windlast ertragen.
Trockene Erde ist aber i. A. scherfester als nasse Erde (auf feuchtem Lehm rutscht man leichter aus!), so dass nasse Erde eine größere Wurzelplatte erfordern würde, für deren Bildung bei plötzlicher Bodenvernässung keine Zeit bleibt. Dieses einfache Prinzip erklärt die erhöhte Anzahl von vom Winde geworfenen Bäumen durch die Kombination von Wind und Regen. Bei Hochwasser und Wind ist das Risiko mindestens ähnlich hoch.

Windwurf
Abb.: 7b
Windwurf
Abb.: 7c
Abb. 7a - c: Vom Wind geworfene gesunde Bäume, die durch die Kombination von Wind und Regen fielen oder auf vernässtem Boden standen.

Windwurf eins gesunden Baumes
Abb.: 7a
Die Abbildungen 8- 10 zeigen die Phasen des Windwurfes für die drei wesentlichen Wurzelmorphologien nach[4].
Abb. 8: Der zeitliche Ablauf des Windwurfes modifiziert nach Coutts (Herzwurzler)
A: Erdrisse
B: Wurzelausreißungen
C: Gleiten des Wurzel-Erd-Ballens
D: Wurzelbrüche am Rande des Wurzelballens und/oder Stockbrüche.

Abb.: 8
Zeitlicher Ablauf des Windwurfes


Abb. 9: Der Windwurf der Flachwurzler
A: Bodenrisse und Wurzelgleiten
B: Abriss der Bodenplatte und Kippen praktisch ohne Erdschub.

Abb.: 9
Windwurf der Flachwurzler
Abb.: 11
Ein vereinfachtes bodenmechanisches Ersatzmodell für das Wurfverhalten der drei Wurzeltypen
Abb. 11: Ein vereinfachtes bodenmechanisches Ersatzmodell für das Wurfverhalten der drei Wurzeltypen
A: Herzwurzler dreht im Gelenk
B: Flachwurzler kippt wie ein Kleiderständer
C: Pfahlwurzler dreht wie eine Brechstange.

Abb.: 10
Windwurf bei Pfahlwurzler
Abb. 10: Windwurf beim Pfahlwurzler
A: Ausbildung von Rissen im Erdreich
B: Je nach Anzahl der Seitenwurzeln dreht ein unterschiedlich großer Wurzelballen aus der Erde
C: Bei hinreichender Tiefe der Pfahlwurzel kann diese am Ballenrande brechen.
In Abb. 11 wird der typische Windwurfmechanismus nochmals vereinfachend dargestellt. Alle drei Mechanismen erfolgen bei vernässtem Boden wesentlich leichter und erfordern geringe Windlasten, wie Abb. 12 als Extrembeispiel zeigt. Den Autoren ist ein Unfall bekannt, bei dem ein junger Mann zum Rollstuhlfahrer wurde, weil ein Baum in der praktisch unbeseitigten Staunässe eines Straßengrabens belassen wurde. Die Kombination von Sturm und Staunässe führte zum Windwurf.
Dabei können Bäume durchaus Jahrzehnte auf Problemstandorten stehen und erst bei Erreichen einer gewissen Höhe und Segelfläche versagen. Das Überleben einer gewissen Standzeit ist also keine Gewähr für weitere sichere Reststandzeit, so wenig, wie das Überleben von 70 Menschenjahren das Überleben auch des 71. Lebensjahres notwendig bedingen muss
Abb.: 12
Pappelwurf auf vernässtem Grund
Foto: Ing. Henri Rogaar, N.O.C.B. Boomtechnisch Adviesburo
Abb. 12: Pappelwurf auf vernässtem Grund
Der nicht vollzogene Windwurf und das Pumpen der Baumwurzel

Nicht immer wird allerdings der Windwurf vollständig vollzogen. Es gibt auch Teilwürfe (Abb. 13A u. 13B). Dies sind Schiefstellungen der Bäume, bei denen windseitig die Wurzelplatte angehoben wird und unter ihr sogar Hohlräume entstehen können, während leeseitig der Boden eingedrückt wird.
Abb.: 13b
Nicht ganz vollzogener Windwurf (Teilwurf oder Schiefstellung)
Abb. 13b: Nicht ganz vollzogener Windwurf (Teilwurf oder Schiefstellung)

Ab.: 13a
Nicht ganz vollzogener Windwurf - Prinzipskizze
Abb. 13a: Nicht ganz vollzogener Windwurf (Prinzipskizze).

Abb.: 14
Die Ausbildung von Säbelbäumen
Abb. 14: Die Ausbildung von Säbelbäumen (aus Mattheck: STUPSI erklärt den Baum, Verlag Forschungszentrum Karlsruhe 1996 [12]).
Bäume korrigieren unter günstigen Lastbedingungen diese Schiefstellung durch Selbstaufrichtung und Ausbildung eines säbelförmigen Stammes (Abb. 14).
Die Vorstufe dieses Teilwurfes ist nun das reversible Schwingen des Baumes mit großen Amplituden, die aber noch nicht zur dauernden Schiefstellung führen. Insbesondere für Flachwurzler finden sich auch in der älteren forstlichen und bodenkundlichen Literatur Hinweise auf Lockerungs- bzw. Pumpeffekte im Wurzelbereich [5-7]. Dabei wird der windseitige Wurzelteller angehoben, der darunter befindliche Hohlraum füllt sich mit Wasser oder Schlamm, die beim Rückfedern der Wurzelplatte in das umgebende Erdreich gepumpt oder gar zwischen den Starkwurzeln nach oben quellend in die Luft geschleudert werden (Abb. 15).
Allerdings ist dies nur die halbe Wahrheit. Es ist gewiss richtig, das flächenhafte Pumpen allein dem Flachwurzler zuzuschreiben, dessen Wurzelplatte — oft durch querverschweißte Wurzeln ausgesteift — sich flächig auf und ab bewegen kann. Darüber hinaus gibt es auch eine Pumpwirkung der Einzelwurzel. Abb. 16 zeigt das Prinzip.


Abb.: 16
Linienartige Pumpwirkungen der Einzelwurzel
Abb. 16: Linienartige Pumpwirkungen der Einzelwurzel
A: Ansaugen, B: Auspumpen
Abb.: 15
Pumpvorgänge bei Flachwurzlern unter Windbewegung.
Abb. 15: Pumpvorgänge bei Flachwurzlern unter Windbewegung.

Wegen des ungleich längeren Hebelarmes vom Stammfuß zum effektiven Windangriffspunkt sind die Wurzelanläufe und die Starkwurzeln erheblichen Biegebelastungen ausgesetzt. Diese führen zu merklichen Quer- und mäßigen Längsbewegungen der Wurzeln in der Erde. Dadurch wird die Erde um den Baum gelockert. Genauer gesagt kommt es nicht nur zu Lockerungen, also Minderungen der Bodenverdichtung durch Anheben der über den Wurzeln lagernden Erde, sondern auch zur Entstehung von Klaffungen zwischen Wurzel und Erde. Bei Staunässe können sich diese Klaffungen schnell mit Wasser füllen, das beim Entlasten der Wurzel durch Zurückschwingen des Baumes in die umliegende Erde oder entlang der Wurzel gepumpt wird. Dieses Verhalten mag durchaus geeignet sein, den Stamm abwärts laufendes Wasser entlang der Starkwurzeln zu den stammfern gelegenen Sinker- und Feinwurzeln zu transportieren.
Dieser Mechanismus dürfte biologisch durchaus sinnvoll sein und bei mäßigem Auftreten dem Baume dienen. Erweicht jedoch das gesamte Baumumfeld, so wird dadurch das Risiko des Windwurfes erhöht.
Der Pipe-Effekt faulender oder hohler Baumwurzeln

Bäume auf vernässtem Grund haben nicht selten faule Wurzeln, wenn diese infolge Luftmangel absterben und somit der Pilzinfektion nichts mehr entgegensetzen. Auch Rasenmähschäden am Stammfuß und Wurzelschäden oder Stammschäden als Folge von Bauarbeiten oder Treibeis sind ein willkommenes Eintrittstor für holzzersetzende Pilze. Diese Stock- und Wurzelfäulen hinterlassen teilweise rohrartige Hohlräume, die das Eindringen von Wasser begünstigen.
Auch das Verbleiben von Baumstümpfen und Wurzeln nach der Fällung von Bäumen im Boden vermag einen ähnlichen negativen Pipe-Effekt bewirken (Abb. 17), der z.T. Wassereintritt in für den Laien verblüffender Reichweite ermöglicht.


Abb.: 18
Diagramm
Abb. 18: Abstände vom geschädigten Bauwerk zum schadensverursachenden Baum nach[8].
Abb.: 17

Abb. 17: Der Pipe-Effekt hohler oder fauler Wurzeln
Wurzelreichweiten
Die Wurzelreichweiten verschiedener Bäume nach Cutler und Richardson[8]

Aus einer Statistik von Schadensfällen, die Baumwurzeln an Gebäuden in England verursacht haben, erstellten Cutler und Richardson eine Sammlung von Wurzelreichweiten verschiedener Baumarten, die hier als Säulendiagramme vielleicht etwas übersichtlicher dargestellt sind. Abb. 18 zeigt die Wurzelreichweiten, die bei Gebäudeschäden vermessen wurden.
Es werden selbsterklärend Maximalreichweiten und verschiedene Prozentraten der Schadensreichweiten dargestellt. Maximale Reichweiten liegen bei Weiden bis 40m und bei Pappeln bis 30m. Bei Linden werden Schädigungsreichweiten bis 20m festgestellt. Man beachte, dass dies Schädigungsreichweiten sind. Die eigentlichen maximalen Reichweiten dürften noch etwas weiter sein.
Ungünstigstenfalls dürften die vorgenannten Pipe-Effekte hohler oder fauler Wurzeln ähnliche Reichweiten haben. Die genannten Pumpbewegungen dürften sich im Wesentlichen auf die Reichweite der mechanisch wirksamen Wurzelplatte beschränken.

Die mechanisch wirksame Wurzelplatte

Mit zunehmendem Abstand vom Baume wird die Intensität der Bodendurchwurzelung immer geringer bis schließlich nur noch Erde in hinreichendem Abstand den Baum umgibt.
Es gibt aber schon rein anschaulich eine gewisse kritische Wurzeldichte, bei der unter Sturm oder Sturm-Regen-Belastung der Boden durch die Wurzeln nicht mehr hinreichend armiert wird und es zu zirkumferentiellen windseitigen Bodenrissen als Einleitung des Windwurfes kommt. Diese Bodenrisse werden mit zunehmender Windbelastung zur Bruchkante des Wurzeltellers. Eine weltweite Feldstudie, die etwa 2500 geworfene Bäume verschiedenster Arten umfasst - und sich mit ca. 1000 von der Forestry Commission England bis zum Wurf gezogenen Bäumen deckt! - ergab einen Zusammenhang zwischen dem über den Wurzelanläufen gemessenen Stammradius und dem Radius der windseitig aus der Erde gedrehten Wurzelplatte (Abb. 19).

Auf die nähere Umgebung dieser Wurzelplatte sollten sich die Pumpbewegungen eingrenzen lassen. Das durch diese Bewegungen nach außen gepumpte Wasser kann dagegen erheblich größere Reichweiten erlangen, ohne dass hier eine wissenschaftlich seriöse obere Grenze angegeben werden kann.
In jedem Falle jedoch ist das Windwurfdiagramm in Abb. 19 ein gutes Maß für den zu erwartenden Krater, den ein durch Wind und Staunässe zu Fall gebrachter Baum in einen Deich reißen kann.
Bei der radialen Ausbildung der Wurzelplatte zeigen die Wurzeln ein fast geniales Potential, Hindernisse durch Reibungsminimierung (Schleimhaut auf der Wurzelspitze!) und Querexpansion (Zelldruck!) zu überwinden, ja gar zu zerstören.


Abb.: 19
Diagramm: Die mechanisch wirksame Wurzelplatte in Abhängigkeit vom Stammradius.
Abb. 19: Die mechanisch wirksame Wurzelplatte in Abhängigkeit vom Stammradius.
Penetrationspotential und Querkraft der Wurzel

Einer der Autoren sah Kiefernwurzeln, die Felswände in den Rocky Mountains sprengten und zentnerschwere Steinbrocken auf Straßen warfen. Das beste uns bekannte und quantifizierbarste Beispiel ist jedoch die Wurzel im Flaschenhals einer Bierflasche aus der Sammlung eines der Autoren (Abb. 20). Mit ihrer Schleimhaut, die die Reibung der Wurzelspitze infolge Längswachstum minimiert, dringt die Wurzel in den vorkomprimierten Spalt der Gummidichtung ein und erreicht das Äußere der Flasche. Das nachfolgende Dickenwachstum der Wurzel sprengt den durch eine Feder vorgespannten Verschluss.

Abb.: 21
Ersatzmodell zur Berechnung der Wurzelquerkräfte.
Abb. 21: Mechanisches Ersatzmodell zur Berechnung der Wurzelquerkräfte.
Abb.: 20
Eine Wurzel wächst in den abgebrochenen Hals einer Bierflasche
Abb. 20: Eine Wurzel wächst in den abgebrochenen Hals einer Bierflasche, perforiert Gummidichtung und Schnapp­verschluss und spreizt den Verschluss.


Eine experimentelle Analyse der mechanischen Gegebenheiten (Abb. 21) deutet auf eine Querkraft von 114N, was etwa dem Gewicht eines 10 Liter-Eimers gefüllt mit Wasser entspricht. Bei der Wechselwirkung mit Gebäuden spielt auch noch die geringe Ermüdungsfestigkeit des Mauerwerkes gegenüber der schwingend durch die Wurzel eingeleiteten Belastung eine wesentliche Rolle. Auch kleine Wurzeln können hier schon schwere Schäden am Bauwerk durch schwingende Belastung hervorrufen. Die Baustatik ist offenbar hilflos gegenüber der schwingenden Materialermüdung durch den Baum, was übrigens auch durch „Waschmaschinenrisse“ in den Fensterecken der Steinhäuser bestätigt wird.
DIN 19712 (alt*) (Flussdeiche) und Merkblätter

Nach allen vorgenannten Ausführungen verwundert es nunmehr nicht, dass in der DIN 19712 (alt) für Flussdeiche [9] ausgeführt wird, dass „Gehölze die Standsicherheit von Deichen , durch unterschiedliche Auswirkungen beeinträchtigen: Bei starkem Sturm kann der Deichboden durch Baumwurzeln gelockert werden; umstürzen­de Bäume reißen Löcher in den Deich."

Auch in den DVWK-Merkblättern 210/1986 [10] finden sich ähnliche Hinweise und der Satz: „In jedem Falle sind wasserseitige Böschungen und Bermen, der Bereich der Deichkrone und alle Überlaufstrecken sowie überströmbare Teilschutzdeiche von jeglicher Bepflanzung freizuhalten.“

Auch in den erfreulich ökologisch ausgerichteten DVWK-Merkblättern 226/1993[11] findet sich die Passage:  „Gehölzbestände auf Deichen können jedoch zu einer erhöhten Sickerlinie und damit zu größeren Strömungskräften innerhalb des Deichkörpers beitragen, was letztlich sicherheitsmindernd ist.“

Beweisphotos von bereits erfolgten Schadensfällen belegen die Ausführungen der Studie und bestätigen auch die in DIN 19712 und DVWK-Merkblatt 210/1986 gegebenen Empfehlungen.
Die Studie will keine Hysterie verbreiten. Ganz gewiss haben Bäume in der Umgebung des Menschen einen hohen Wert in Bezug auf die Lebensqualität und ganz gewiss muss auch nicht an jedem Baum der Deich versagen.
Theorie und Praxis deuten aber sehr wohl darauf hin, dass die Präsenz von Bäumen auf Deichen ein zusätzliches und vermeidbares Risiko für die Deichsicherheit darstellt. Dies gilt insbesondere, wenn das Hochwasser von Sturm begleitet ist.
Die in den Städten für die Bäume auf Deichen verantwortlichen Personen müssen sich nun fragen, ob die Bäume ihnen dieses Risiko wert sind. Sollte man sich für die Beseitigung der Deichgehölze entscheiden, so sollte bedacht werden, dass eine Baumfällung sofort tote und später faulende Wurzeln hinterlässt. Gleiches gilt für einen Baum, der auf natürliche Weise stirbt. Dem Problem der im Deichkörper faulenden Wurzeln wird man sich damit mit oder ohne Fällung künftig zu stellen haben.

*DIN 19712 (Aktuell) Änderungsvermerk:
DIN 19712 Hochwasserschutzanlagen an Fließgewässern
Gegenüber DIN 19712:1997-11 wurden folgende Änderungen vorgenommen: a) Änderung des Titels; b) Einarbeitung DIN EN 1997-1, NAD und DIN 1054; c) Berücksichtigung der Reihe DIN 19700; d) erstmalige Berücksichtigung von Hochwasserschutzwänden; e) erstmalige Berücksichtigung von planmäßigen mobilen Hochwasserschutzeinrichtungen. Siehe hier(externer Link)
Literatur

[1] Metzger K. (1893), Der Wind als maßgeblicher Faktor für das Wachstum der Bäume, Mündener Forstliche Hefte, Springer Verlag Berlin

[2] Mattheck, C. (1997), Design in der Natur- der Baum als Lehrmeister, Rombach Verlag Freiburg, 3. Auflage, in englischer Sprache erschienen 1998 im Springer

[3] Mattheck, C. und Teschner M. (1997), Mechanical control of root growth, Journal of theoretical Biology 184, 261-269

[4] Mattheck, C. und Breloer H. (1994) Handbuch der Schadenskunde von Bäumen- Der Baum in Mechanik und Rechtsprechung, 2. Auflage, Rombach Verlag Freiburg

[5] Ramann, E. (1911), Bodenkunde, Springer Verlag, Berlin (mit Hinweis auf Allg. Forst- u. Jagdztg. 1890, S. 159

[6] Köstler, N., Brückner, E. und Bibelriether, H. (1968), Die Wurzeln der Waldbäume, Verlag Paul Parey Hamburg (s. S. 64)

[7] Mitscherlich, G. (1971), Wald, Wachstum und Umwelt, Sauerländers Verlag, Frankfurt (s. S. 30)

[8] Cutler, D.F. und Richardson, I.B.K. (1991), Tree Roots and Buildings, Longman Scientific & Technical, 2. Auflage, Harlow, Essex

[9] DIN 19712 (1997), Flußdeiche, Beuth Verlag, Berlin

[10] DVWK-Merkblätter 210 (1986), Flußdeiche, Verlag Paul Parey Hamburg

[11] DVWK-Merkblätter 226 (1993), Landschaftsökologische Gesichtspunkte bei Flußdeichen, Verlag Paul Parey Hamburg

[12] Mattheck, C. (1996), Stupsi erklärt den Baum, Verlag Forschungszentrum Karlsruhe (nur zu beziehen bei Buch- Mende, Fax: 0721/815343)


Die Studie wurde im Auftrag des II. Oldenburgischen Deichbandes, Franz-Schubert-Straße 31, 26919 Brake erstellt.

Die Erstveröffentlichung dieses Beitrages erfolgte im Tagungsband des 5. VTA-Spezialseminar „Messen und Beurteilen am Baum“, Karlsruhe, 1999

Prof. Dr. C. Mattheck
Dr. K. Bethge
Forschungszentrum Karlsruhe
in der Helmholtz-Gemeinschaft,
Institut für Materialforschung II,
Abteilung Biomechanik

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